Zwei-Klassen-Gesellschaft?

In diesem Forum haben Sie die Möglichkeit, den Ärztinnen und Ärzten der UNEV-Sprechstunden Fragen zu stellen. Wir bitten Sie, vor dem Versenden einer Anfrage zunächst zu prüfen, ob sich die Antwort auf Ihre Frage oder die gewünschte Information unter > Formen der Urtikaria oder in unseren Antworten auf bisherige Forumsanfragen findet.

Moderator: USS

Antworten
ErsteSingular
Beiträge: 2
Registriert: 02 Jul 2017, 11:18

Zwei-Klassen-Gesellschaft?

Beitrag von ErsteSingular »

Guten Tag,

ich möchte hier zunächst meine persönliche "Urtikaria Geschichte" erzählen und um Rat und persönliche Einschätzungen bitten.

Zunächst kurz zu mir.
Ich bin 25 Jahre alt, männlich und leide seit 2009 an einer Urtikaria.

Erste Episode
Damals kam die Urtikaria völlig unerwartet und plötzlich als ich eines schönen Sommertages im Garten schwer körperlich arbeitete.
Es folgte eine Zeit, in der ich glaubte, die Sache würde sich schon wieder von selbst erledigen und ich deswegen nichts weiter unternahm.
Nach einem Umzug nach Niedersachsen und einer weiteren Verschlimmerung der Situation ging ich schließlich das erste Mal noch unwissend, was genau mich plagte, zum Arzt.
Es folgte ein langer Ärztemarathon vom Allgemeinmediziner, zum Allergologen, Dermatologen und HNO bis ich schließlich eine Überweisung zur medizinischen Hochschule in Hannover erhielt.
Erst hier in der Privatambulanz der Dermatologie der MHH wurde das erste mal die Diagnose der chronischen spontanen Urtikaria gestellt.
Diese erfolgte damals nach umfangreichen Testungen wie einem Wärmetest, einem Leistungs-EKG sowie einem großen Blutbild.
Schon damals war mein Fall so ungewöhnlich stark, dass in der Klinik eine aufwändige Fotodokumentation meines Krankheitsbildes in Form von Quaddeln und rotem Hautauschlag erstellt wurde.
Letztendlich konnte damals keine Ursache für die Urtikaria gefunden werden, zumindest die Symptome aber sollten unterdrückt werden.
Hierzu kamen zunächst Antiallergika wie Xsusal, anschließend erst schwach dosierte und anschließend hoch dosierte Antihistaminika zum Einsatz.Leider auch über längeren Zeitraum ohne Erfolg.
Auf Vorschlag der behandelnden Ärztin sollte nun ein "Off Label Use" von einem neuen Medikament, Xolair, getestet werden.
Leider lehnte meine Krankenkasse aufgrund mangelnder Zulassung die Behandlung damals ab.
So ergab es sich, dass ich versuchen musste, mit der Urtikaria zu leben, was mehr schlecht als recht gelang. Ich verzichtete aufgrund der starken Müdigkeit und mangelndem Effekt auf weitere Antihistaminika.
Bis sich die Urtikaria circa im Sommer 2013 spontan deutlich besserte. Sie ist nie völlig verschwunden, aber Sport und psychischer Stress haben keine starken Symptome mehr hervorgerufen.
Ich fühlte mich damals wie neu geboren.

Zweite Episode
Es folgten circa drei Jahre der relativen Ruhe, bis im Frühjahr 2016 die Symptome wieder vermehrt auftraten. Dieses mal vertraute ich darauf,
dass es von allein wieder besser würde und die Symptome nur auf eine besonders stressvolle Lebensphase zurückzuführen wären.
Leider stellte sich bis Anfang 2017 keine Besserung ein, die Symptome verschlimmerten sich sogar soweit, dass sich meine berufliche Leistungsfähigkeit einschränkte.
Hier im Forum war ich bisher nur als Leser tätig und erfuhr, dass Xolair mittlerweile eine offizielle Zulassung für die Behandlung der chronischen Urtikaria hat.
Von dieser Neuigkeit bestärkt suchte ich Februar diesen Jahres einen Hautarzt mit der Bitte um Rezeptierung des Medikamentes auf.
Ich erfuhr, dass eine einfache Rezeptierung des sehr teuren Medikamentes nicht ohne weiteres möglich ist, und wenn überhaupt nur von Kliniken eingeleitet werden kann.
Erneut wurde ich also in die Tagesklinik der medizinischen Hochschule Hannover überwiesen, diesmal allerdings als Kassenpatient.
Nach einer längeren Wartezeit auf den Termin zur Erstuntersuchung begann die Behandlung. Zum Aufnahmegespräch schilderte ich meinen Fall und bat um Einholung der Ergebnisse
der Untersuchungen von 2012 in der MHH. Leider kommuniziert die Privatambulanz nicht mit der Hautklinik, sodass eine Übergabe des alten Befundes laut MHH nicht möglich war.
Ich wurde also als "neuer" Patient aufgenommen und die schon damals durchgeführten Untersuchungen wurden mit teilweise neuer Methodik wiederholt.
Zusammenfassend wurde die Diagnose der chronischen spontanen Urtikaria gestellt, die Einleitung einer Medikation erfolgte allerdings nicht.
Ich erhielt einen Arztbrief, der das Standard Procedere für die Behandlung enthält. Hochdosierte Einnahme von Antihistaminika über mindestens 4-6 Wochen.
Bei anhaltenden Beschwerden wurde die Empfehlung von Singulair oder Xolair ausgesprochen.
Mein Dermatologe schickte mich also zur MHH, weil er selbst die Behandlung mit Xolair nicht einleiten wollte / konnte.
Dort wurde ich allerdings ebenfalls ohne Behandlung, mit nichts als dem Brief, aus der Behandlung entlassen. Es folgte weitere Behandlung beim Dermatologen
mit zunächst hochdosierten Antihistaminika, welche keine Wirkung zeigten. Danach bat ich erneut um die Einleitung von Xolair, welche mit Verweis auf Nebenwirkungen abgelehnt wurde,
zunächst müsse Singulair, welches nebenbei nicht einmal für die chronische Urtikaria zugelassen ist, für vier Wochen probiert werden.
Ich stimmte der Behandlung unter Aussicht auf Xolair bei mangelnder Wirkung von Singulair zu.
Nach guten fünf Wochen erschien ich erneut beim Hautarzt, da Singulair leider auch keine positive Wirkung (wohl aber starke Nebenwirkungen) zeigte.
Wieder bat ich um Einleitung von Xolair, welche erneut abgelehnt wurde. Zunächst müsse Singulair für weitere drei Monate erprobt werden. Ich lehnte die Behandlung aufgrund
der Stärke der Nebenwirkungen ab. Eine Einleitung von Xolair erfolgte nicht.

Ich bin nun mit meinem Latein am Ende. Mit der Bitte um Behandlung wurde ich nur von den Ärzten "hin und her" geschickt. Ohne, dass sich jemand ernsthaft mit mir auseinander gesetzt hat.
Selbst in der MHH zeigte niemand Interesse an den konkreten Symptomen der Urtikaria, mein Vorschlag diese "vorzuführen" wurde lächelnd abgelehnt. Schon 2012 wäre die Behandlung mit Xolair möglich gewesen,
hätte die (private) Krankenkasse nicht abgelehnt. Jetzt in 2017 mit offizieller Zulassung erscheint mir die Einleitung für Kassenpatienten als Ding der Unmöglichkeit.
Leben wir medizinisch wirklich in einer solchen Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der teure Medikamente für Kassenpatienten fast unerreichbar sind?

Meine Lebensqualität und Belastungsfähigkeit ist durch die Urtikaria sehr stark eingeschränkt. Ich möchte mich nicht noch einen Sommer vor dem warmen Wetter drinnen "verstecken",
auf Sport als Ausgleich verzichten und bei jeder kleinen körperlichen Anstrengung Angst vor Quaddeln und unerträglichem Juckreiz haben.
Besteht die Chance, dass die Charité in Berlin eine Behandlung mit Xolair einleiten kann? An welchen Arzt könnte man sich in der Region Braunschweig alternativ wenden?

Ich bin für jede Anregung offen und bitte um Entschuldigung, falls mein Bericht stellenweise emotional gefärbt sein sollte.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. M. Metz
Facharzt
Beiträge: 547
Registriert: 13 Nov 2001, 00:00
Wohnort: Berlin

Re: Zwei-Klassen-Gesellschaft?

Beitrag von Dr. M. Metz »

Lieber ErsteSingular,
es tut mir sehr Leid von Ihrer Leidensgeschichte zu hören, solche Situationen sollten in der Tat nicht vorkommen. Sie haben vollkommen Recht, Omalizumab (Xolair) ist für die Therapie der chronischen spontanen Urtikaria welche nicht ausreichend auf Antihistaminika anspricht zu gelassen und sollte jedem Patienten zur Verfügung stehen der es benötigt. Es gibt hierbei auch keine 2-Klassen-Medizin, die Erstattung erfolgt bei indikationsgerechter Diagnose (die bei Ihnen offensichtlich vorliegt) bei den gesetzlichen Krankenkassen genauso wie bei den privaten Versicherungen. Nicht jeder niedergelassene Hautarzt hat Erfahrung mit der Gabe sogenannter Biologika (moderne therapeutische Antkörper welche in die Haut gespritzt werden), daher werden manche diese Therapie tatsächlich nicht durchführen. Grundsätzlich kann aber jeder Hautarzt diese Therapie verordnen und verabreichen, es gibt insbesondere auch keine Bedenken wegen Sicherheit oder Nebenwirkungen.
Leider können wir Ihnen keine Empfehlungen bzgl. niedergelassener Ärzte in Ihrer Gegend geben welche Ihnen hier kompetent weiterhelfen können. Was die Kliniken betriffft wäre die MHH in Hannover eigentlich eine der Empfehlungen, aufgrund Ihrer bisherigen Erfahrung aber vielleicht nicht die die Sie hören wollen. Weitere Universitätshautkliniken in Ihrer Nähe sind Göttingen und Magdeburg, insbesondere in Göttingen sind in jedem Fall in der Urtikariatherapie (auch mit Xolair) sehr erfahrene Kollegen und Kolleginnen.

in der Hoffnung, dass Sie schnell Hilfe bekommen,
mit besten Grüßen aus Berlin,
Martin Metz
ErsteSingular
Beiträge: 2
Registriert: 02 Jul 2017, 11:18

Re: Zwei-Klassen-Gesellschaft?

Beitrag von ErsteSingular »

Sehr geehrter Herr Dr. Metz,

zunächst vielen Dank für Ihre freundliche und ausführliche Antwort. Macht es in Ihren Augen denn Sinn, den Hautarzt zu wechseln? Die einzige für mich denkbare Strategie wäre dann solange nach einem Dermatologen zu suchen, bis ein Arzt bereit ist, mir Xolair zu verschreiben. Ich komme in diesem Szenario vor wie ein Hausierer und frage mich, ob das wirklich zielführend ist, zumal die Wartezeiten bei Neuvorstellungen von mehreren Wochen über Monate bis gar nicht möglich reicht.

Auf meine Nachfrage zur Gabe von Xolair bekam ich bei der MHH die Antwort, dass Kliniken keine Medikamente rezeptieren würden, das solle dann mein Hautarzt übernehmen. Den Rest der Geschichte hatte ich ja bereits oben geschildert. Werde ich in Göttingen oder Magdeburg andere Aussagen erhalten?

Ich bitte Sie, noch auf meine Frage einzugehen, ob eine Behandlung mit Xolair in der Charité in Berlin eingeleitet werden könnte. Die längere Wegstrecke wäre mir an dieser Stelle egal.

Vielen Dank.
Dr. M. Metz
Facharzt
Beiträge: 547
Registriert: 13 Nov 2001, 00:00
Wohnort: Berlin

Re: Zwei-Klassen-Gesellschaft?

Beitrag von Dr. M. Metz »

Um direkt auf Ihre Fragen einzugehen:
1. Ich stimme Ihnen zu, dass es frustrierend und belastend wäre von Hautarzt zu Hautarzt zu wechseln in der Hoffnung Hilfe zu bekommen. Ich glaube nicht, dass Sie eine ähnliche Antwort wie von der MHH in Göttingen erhalten werden, zusichern kann ich Ihnen das aber natürlich nicht. ich würde es auf einen Versuch ankommen lassen.
2. Selbstverständlich können Sie auch in die Sprechstunde nach Berlin kommen damit dort die für Sie notwendige Therapie eingeleitet werden kann. Das Problem ist aber, dass es nicht mit der Einleitung alleine getan ist, die Therapie muss dann ja auch von ärztlichem Personal monatlich durchgeführt werden, hierfür benötigen Sie dann also auch einen Arzt in Ihrer Nähe. Aber auch das ist, denke ich, lösbar.

Viel Erfolg welchen Weg auch immer Sie versuchen,
mit freundlichen Grüßen,
M. Metz
Christian
Beiträge: 42
Registriert: 17 Apr 2008, 14:29

Re: Zwei-Klassen-Gesellschaft?

Beitrag von Christian »

Hallo ErsteSingular,

ich leide auch seit 2005 an einer chronischen Urtikaria. Ich war auch eine Zeit lang in der Berliner Charite in Behandlung. War sogar eine Woche stationär da.
Habe anschließend an einer Studie teilgenommen....musste des öfteren nach Berlin....bekam aber leider kein Xolair gespritzt sondern Placebo. Es wirkte natürlich nicht. Nach einiger Zeit habe ich dann Xolair bekommen. 2 x 150 mg und ich war ca. 3 Monate beschwerdefrei. Habe dann regelmäßg Xolair in Berlin bekommen bis es dann irgendwann hieß, die Charite kann mich damit nicht mehr versorgen, das müsse mein Hautarzt in Wolfsburg machen. Allerdings weigert sich mein Hautarzt.

Nun stehe ich da, beinah täglich Nesselsucht plus Angioödeme....und ich finde niemanden der mir Xolair verschreibt.

Würde mich freuen wenn du weiter über deinen Verlauf berichtest. Vielleicht findest du ja einen GUTEN Dermatologen im Umkreis Braunschweig/Wolfsburg.

Weiterhin alles Gute.

Gruß
Christian
Antworten